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Krieg in der Ukraine: Kursk-Katastrophe droht – ukrainische Truppen nahezu komplett abgeschnitten

Krieg in der Ukraine: Kursk-Katastrophe droht – ukrainische Truppen nahezu komplett abgeschnitten

Die Russen verwandeln den ukrainischen Frontvorsprung bei Kursk in einen Kessel. Außerdem gelang ihnen erneut ein Überraschungsangriff aus einer unterirdischen Gasröhre. 

Südlich der russischen Stadt Kursk halten ukrainische Truppen russisches Gebiet unter ihrer Kontrolle. Seit August versuchen die Russen, sie von dort zu vertreiben – nun bahnt sich eine Katastrophe an. Die russischen Streitkräfte haben den ukrainischen Frontvorsprung fast vollständig abgeschnitten und einen taktischen Kessel gebildet. Tausende ukrainische Soldaten sitzen in der Falle. Es droht die schwerste Niederlage seit dem Fall von Mariupol.

Kursk-Operation zunächst erfolgreich

Mit einer überraschenden Offensive konnten die Ukrainer im August die schwach besetzte Grenze überwinden und in einem schnellen Vorstoß relativ weit in Richtung Kursk vordringen. Die Kleinstadt Sudscha, ein logistischer Knotenpunkt und Symbol der Offensive, fiel als erste größere Ortschaft in ihre Hände. Doch nach dem anfänglichen Schock gelang es den Russen, den Einbruch einzudämmen. Die ukrainischen Truppen konnten ihre Positionen in zähen Kämpfen zwar noch leicht ausbauen, doch großräumige Manöver in Richtung Kursk blieben aus. Weitere Versuche, den Frontvorsprung nach Westen oder Osten deutlich zu erweitern und gleichzeitig an der Grenze kleinere Kessel zu schaffen, scheiterten entweder bereits im Ansatz oder kamen nach minimalen Geländegewinnen zum Stillstand. Ein letzter Befreiungsschlag in nördlicher Richtung führte lediglich dazu, zeitweise in einige Siedlungen einzudringen.

Gleitbomben und Glasfaserdrohnen

Parallel dazu drängten die Russen die Ukrainer an allen Seiten zurück. Ihr Hauptziel war es, den Frontvorsprung an seiner Basis abzuschneiden – ein Vorhaben, das ihnen nun weitgehend gelungen zu sein scheint. Bereits vor einigen Tagen konnten russische Einheiten aus der Ortschaft Kurliowka (östlich des Einbruchs) ausbrechen und einen westlich davon gelegenen Wald einnehmen. Jetzt stehen sie kurz vor der Grenze. Dieser tiefe Vorstoß wurde durch eine neue Taktik ermöglicht: Vor dem Infanterieangriff wurden ukrainische Gräben und Bunker mit schweren Gleitbomben angegriffen und regelrecht zerstört. Diese Bomben, hier die schweren vom Typ FAB-3000, werden aus großer Höhe abgeworfen und nutzen einfache Navigations-Module, um Ziele mit hoher Zerstörungskraft präzise zu treffen. Gleichzeitig rückten die Russen östlich von Nikolaevo-Dar’ino auf der gegenüberliegenden Seite des Frontvorsprungs vor. Die russische Taktik zeigt eine Weiterentwicklung ihrer Drohnen- und Bombardierungsstrategie: Kabelgesteuerte Glasfaserdrohnen haben eine Reichweite von bis zu 20 Kilometern und sind gegen ukrainische Störsender nahezu immun, während die Gleitbomben Schläge aus sicherer Entfernung ermöglichen. 

Letzte Straße unter russischem Beschuss

Zwischen den beiden russischen Spitzen verläuft die einzige ukrainische Versorgungsstraße (R200), nur wenige Kilometer von den russischen Stellungen entfernt. Diese Straße ist nicht nur die einzige asphaltierte Verbindung, sondern auch die einzige Route, die schwere Fahrzeuge wie Panzertransporter tragen kann – bei Frühjahrstauwetter wird das umliegende Gelände auch für geländegängige Fahrzeuge nahezu unpassierbar. Zwar ist die Straße noch nicht vollständig unterbrochen, sie steht jedoch über weite Strecken unter russischer Feuerkontrolle und wird von deren Drohnen dominiert. Ausgebrannte Fahrzeuge säumen die Strecke, und russische Drohnen jagen jeden Transport. Berichten zufolge haben die Russen Hunderte ihrer besten Drohnenoperateure in der Region konzentriert. Zusätzlich stören sie den Funkverkehr ukrainischer Drohnen und setzen selbst großflächig kabelgesteuerte Glasfaserdrohnen ein.

Überraschungsangriff aus der Röhre 

Das allein wäre bereits bedrohlich genug, doch es kommt noch schlimmer. Im Zentrum der ukrainischen Verteidigung liegt Sudscha. Dort gelang den Russen ein überraschender Schlag: Ähnlich wie vor dem Fall von Avdiivka nutzten sie Gasleitungen, um Truppen tief hinter die ukrainischen Linien zu bringen. Nördlich von Sudscha tauchten sie auf und blockieren nun die verbliebenen Verbindungswege der Ukrainer. Ob es den Russen gelingt, die Verbindung zu diesen Einheiten herzustellen, oder ob die Ukrainer die Positionen zurückerobern können, ist derzeit unklar. Die Pipeline besteht aus vier unterirdisch verlegten Röhren und führt bis zu einer Kompressionsstation an der Grenze. Es bleibt ungewiss, ob die Russen an weiteren Stellen Truppen durch die Röhren geschleust haben. Das Auftauchen der russischen Truppen führte jedoch zu einem Schock. Mit Feinden im Rücken sahen sich die Ukrainer gezwungen, ihre Stellungen östlich von Sudscha aufzugeben.

An der Basis wird der Frontvorsprung abgeschnürt, im Zentrum sind russische Einheiten aufgetaucht, und die Russen zerstören systematisch reguläre sowie provisorische Brücken der Ukrainer, um Bewegungen innerhalb des Kessels zu erschweren. Gleichzeitig greifen sie an fünf Stellen an. Die Russen wollen einen Rückzug der ukrainischen Truppen auf eigenes Gebiet verhindern und streben einen « echten » Kessel an, in dem möglichst viele Ukrainer gefangen sind. Unter dem Druck der Angriffe, insbesondere im Norden, kollabieren die ukrainischen Linien. Vermutlich ziehen sich die Verteidiger in Richtung des Zentrums ihres Gebiets und der ukrainischen Grenze zurück. Für die eingekesselten Soldaten wird die Situation nicht nur militärisch, sondern auch humanitär zur Katastrophe: Ohne Nachschub drohen Nahrungsmittelknappheit und der Zusammenbruch der medizinischen Versorgung. Selbst wenn einzelne Fahrzeuge durchkommen, werden die meisten auf dem Weg nach Sudscha zerstört. Eine Versorgung so vieler Soldaten ist auf Dauer unmöglich, und Verwundete können nicht evakuiert werden. Verletzte, die in einem Krankenhaus überleben könnten, sterben in Kellern. Zunächst müssen die Verteidiger ihre Linien stabilisieren.

Katastrophe mit Ansage 

Wie konnte es zu diesem Desaster kommen? Es handelt sich um eine vorhersehbare Katastrophe. Seit Monaten drängen die Russen die Ukrainer zurück. Es war absehbar, dass sie nach dem Ende der Frostperiode die Straße blockieren würden. Bei Temperaturen von bis zu 15 Grad sind Fahrzeuge nun auf das Straßennetz angewiesen. Mehr noch als an anderen Orten wollte die ukrainische Führung das Gebiet um jeden Preis halten. Russisches Territorium unter ukrainischer Kontrolle sollte in kommenden Verhandlungen als Druckmittel dienen, um territoriale Zugeständnisse im Osten der Ukraine zu erzwingen. Die zunächst erfolgreiche Offensive brachte der Ukraine – zumindest im Westen – viel positive Berichterstattung, weshalb man die Niederlage so lange wie möglich hinauszögern wollte. Im Westen wurde die Offensive zunächst als Zeichen ukrainischer Initiative gefeiert, doch die drohende Niederlage könnte die Bereitschaft zu weiteren Waffenlieferungen oder finanzieller Unterstützung weiter beeinträchtigen. Der abrupte Stopp der US-Lieferungen dürfte kaum sofort zu einem Munitionsmangel an der Front geführt haben. Ein Abschalten oder Ausdünnen des Starlink-Systems hat die ukrainischen Truppen jedoch erheblich eingeschränkt.

Lösen aus dem Kessel

In den letzten Monaten gelang es den Ukrainern mehrfach, ihre Truppen aus solchen Umzingelungen herauszuführen. Bei Kursk sind die Verhältnisse jedoch schwieriger. Es geht nicht um die Reste von zwei Bataillonen oder die Distanz zwischen zwei Ortschaften. In Kursk hat Kiew einen Großteil seiner besten Truppen eingesetzt. Schätzungen über die genaue Zahl sind schwierig, da die Einheiten längst nicht mehr ihre Sollstärke haben. Es könnten 8000 Mann sein, aber auch 15.000 – in jedem Fall eine bedeutende Zahl, ergänzt durch das beste verfügbare Material der Ukraine. Der Kessel ist zudem nicht übermäßig groß. Je mehr die Russen das Gebiet zusammendrücken, desto enger werden die Ukrainer im verbleibenden Raum zusammengepfercht. Dort werden sie unablässig von russischen Drohnen attackiert. Selbst ohne Drohnen wäre es unmöglich, eine solche Truppenmasse schnell über eine einzige Straße abzuziehen. Russische Verstärkungen sollen aus dem Raum Belgorod eingetroffen sein, um den Kessel endgültig zu schließen. Gleichzeitig kursieren Berichte über ukrainische Reserven, die an der Grenze zusammengezogen werden, möglicherweise für einen letzten Entsatzangriff.

Niederlage würde schwer wiegen

Die einzige Hoffnung scheint ein kämpfender Rückzug zur Grenze zu sein, kombiniert mit einem gleichzeitigen Vorstoß von ukrainischem Gebiet aus, um den russischen Ring zu sprengen. Dafür müsste das ukrainische Oberkommando das besetzte russische Territorium jedoch endgültig aufgeben. Die Aussichten auf einen Ausbruch sind ungewiss. Die Russen werden einen solchen Versuch erwarten, und der gesamte Krieg in der Ukraine zeigt, dass Truppen, die sich bewegen und exponieren, schwere Verluste erleiden. Auch wenn Kiew hier seine besten und loyalsten Truppen eingesetzt hat, dürfte die Moral unter diesen Umständen stark gelitten haben. Die Russen hoffen auf eine Kapitulation des Kessels oder zumindest einzelner Truppenteile – bislang können sie allerdings nur kleine Gruppen von Gefangenen zeigen. 

Sollte es den Russen gelingen, die ukrainischen Truppen einzukesseln und gefangenzunehmen, wäre es eine noch größer Niederlage Kiews als der Fall von Mariupol. Die Ukraine kann derzeit weder die Soldaten noch das Material ersetzen. So ein Ausgang hätte massive Auswirkungen auf die Bereitschaft, den Krieg fortzuführen, innerhalb der Ukraine und außerhalb. 



Source link : https://www.stern.de/politik/ausland/endgame-kursk—ukrainische-truppen-nahezu-komplett-abgeschnitten–35535734.html

Author : Gernot Kramper

Publish date : 2025-03-09 14:11:00

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